Mit dem vorliegenden Text wird der Versuch unternommen, die historischen Tatsachen und Besonderheiten der Armenfürsorge und Wohlfahrtspflege in einer Region an konkretem Aktenmaterial der Stadt Lichtenstein darzustellen und damit einen Beitrag zur Aufarbeitung der Stadtgeschichte hinsichtlich sozialer Gesichtspunkte zu leisten.
Bei der Durchsicht der verfügbaren Akten im Stadtarchiv von Lichtenstein überwältigt zunächst die Fülle des vorhandenen Materials und macht klar, welchen zentralen Platz die Armenfürsorge in den städtischen Angelegenheiten einnahm. Es wurde bei der Prüfung jedoch auch sehr schnell sichtbar, dass nur punktuell Informationen vorhanden sind und Aktenmaterial aus bestimmten Zeiten überhaupt nicht auffindbar war. Es gab jedoch noch genügend Unterlagen, um einen eindrucksvollen Einblick in den Bereich der Armenfürsorge und Wohlfahrtpflege in Lichtenstein über mehr als 200 Jahren zu erhalten.
Die Versorgung von armen Teilen der Bevölkerung gestaltet sich für die Kommunen sehr schwierig. Es gab keinen zentralen Staat, der dies durch Gesetze regeln konnte. Auch durch die Grafen und Herren, später Fürsten von Schönburg-Waldenburg gab es kaum Lösungen für das Problem. Versuche stellten die Armenordnungen dar. Jede Stadtverwaltung musste also eigene Wege zur Bewältigung der Aufgaben in der Fürsorge finden. Dabei holte sich die Stadtverwaltung auch Informationen aus anderen Regionen Sachsens ein. In den Akten des Stadtarchivs findet man die Aufzeichnungen von Ratsmitgliedern, die von 1833 bis 1880 Informationen über Armensachen, Vorkommnissen und Lösungen von Armenangelegenheiten, theoretische Schriften zu sozialen Fragen und Tätigkeiten von Armenvereinen sammelten.
Einen Versuch, eine Richtlinie in das Armenwesen zu bringen, stellt die Einteilung der Hilfsbedürftigen in sogenannte „würdige“ und „unwürdige“ Arme. Damit wollte man eine eigene Mitverantwortung für die persönliche Situation verdeutlichen und moralische Schwerpunkte setzen. Galten schon von jeher die Waisen, Witwen und Invaliden als hilfsbedürftig und der zugedachten Almosen als „würdig“, war die Einstellung zu den „unwürdigen“ Armen anders. Hier galt mehr die Zucht, Reklementierung, Bestrafung und Verwahrung. Zu dieser Gruppe von Armen zählte man unter anderem Bettler, Wandergesellen ohne Arbeit, Alkoholiker, straffällig gewordene Menschen und sogenannte „Arbeitsscheue“.
Unter den genannten Gesichtspunkten wird nun die Lichtensteiner Wohlfahrtspflege und Armenfürsorge betrachtet
Teil 1: Kampf gegen das Bettelunwesen
Angesichts der obigen Ausführungen ging man generell davon aus, dass das Betteln der Anfang aller Verbrechen sei. Daraus wird die Notwendigkeit abgeleitet, dass die Bettelei mit allen Mitteln unterbunden werden musste. Als solches Mittel sah man körperliche Züchtigung, auch gegen Kinder unter 12 Jahren, und Inhaftierung in städtischen und landeshoheitlichen Arbeitsanstalten an. Es wurde auch nach Ursachen für Bettelei gesucht. Gefunden wurden sie überall, nur nicht in politisch-wirtschaftlichen Gründen, sondern in menschlich-individuellen Ursachen wie Mangel an christlicher Lebenskultur, im Branntweintrinken, in Lotterien, „verdorbenen“ Verhältnissen, in zu vielen Wirtshäusern. Die Forderung nach einer Armenreform wurde immer lauter, da die Zahl der Bettler zunahm, die Belastungen für die Kommunen anwuchs und die Notlagen immer härter wurden.
Die Maßnahmen gegen die Bettelei wurden zu einer vordringlichen Aufgabe. Gehörten noch im Mittelalter die Bettler zum akzeptierten Teil der städtischen Gemeinschaft, die Ziel der christlichen Mildtätigkeit waren, um Seelenheil für den Almosengeber zu erhalten, wurde ab dem 17. Jahrhundert immer mehr zur gefürchteten und lästigen Plage. Gründe dafür lagen in gesellschaftlichen Veränderungen. Der Zerfall der Feudalordnung, die Auflösung der Zünfte, Kriege und der Niedergang des Handels vergrößerten die Zahl der Armen. Armut wurde zum allgegenwärtigen gesellschaftlichen Massenproblem. Hinzu kam der Wandel in den moralischen Auffassungen. Bettelei wurde kriminalisiert. Bettler suchten ihr Auskommen nicht nur in milden Gaben der christlichen Nächstenliebe sondern auch durch Diebstähle und Räubereien zu sichern. Das Widersprach natürlich der bürgerlichen Vorstellungen der Arbeitsethik. Der Ruf nach Bettelverboten wurde immer stärker. Schwierig ist bei der Darstellung der einzelnen Maßnahme die Trennung von Regulativen zur Bekämpfung der Bettelei, Armenordnungen und Unterstützungs-wohnsitzleistungen. Im einzelnen Fall spielen alle genannten Ordnungen eine Rolle. Kam zum Beispiel ein Invalide in die Stadt und bettelte um Essen, wurde er der Stadt verwiesen laut Bettelordnung. War dies nicht möglich, weil er krank war, wurde geprüft, aus welcher Herkunftskommune er kam. Die Herkunftskommune war zuständig für die Unterstützung dieses Invaliden. Geht auch dies nicht, wird entsprechend der Armenordnung geprüft, welche Leistungen erbracht werden müssen. Oftmals gab es juristische Auseinandersetzungen zwischen Kommunen über die Zuständigkeit für Bedürftige.
Im Jahre 1877 erließ die Stadt Lichtenstein das „Regulativ über Bekämpfung der Bettelei“. Es stellt den Versuch der städtischen Verwaltung dar, der Zunahme der Bettelei Einhalt zu gebieten. Gezeichnet war das beginnende siebente Jahrzehnt des 19.Jahrhunderts durch eine massive wirtschaftliche Krise, die besonders die Textilindustrie betraf. Tausende waren entwurzelt, hatten keine Wohnungen mehr und zogen vagabundierend durch Deutschland. Die Zahl der Verbrechen stieg.
Als Grundlage dieser Bettelordnung dienten Informationen aus anderen Kommunen über deren Verordnungen.
Im Lichtensteiner Regulativ wird im ersten Artikel die Arbeitspflicht jedes arbeitsloden Reisenden angemahnt. Kann ihm keine Arbeit zugewiesen werden, erhielt er mit den Legitimationspapieren ein Almosen und musste weiterziehen.
Almosen wurden nur an einer bestimmten Stelle von einem städtischen Angestellten ausgegeben. Allen anderen Bürgern der Stadt war bei Strafandrohung von zwei Mark die Almosengabe verboten. An allen Wegen in die Stadt wurde das durch Schilder bekannt gegeben, die auch den Ort der Almosenausgaben nannten. Die Höhe der Stadtalmosen betrug für Bedürftige, die ihren Wohnsitz innerhalb der Amtshauptmannschaft Glauchau hatten, 10 Pfennige im Vierteljahr. Für alle anderen Durchwandernden lag der Almosenbetrag niedriger.
Die Vergabestelle übernahm gleichzeitig die Funktion eines „Arbeitsamtes“. Der Almosenverteiler führte eine Liste über den Bedarf an Arbeitskräften in der Stadt. Von hier aus erfolgte die Zuteilung von Arbeitsnachweisen, wurden die Legitimationen geprüft und Register über die ausgezahlten Almosen geführt.
Die Einwohner konnten aber weiterhin städtischen Unterstützungsempfängern und „verschämten“ Armen Hilfe leisten.
Der notwendige Geldbedarf für die Almosen wurde durch den Zuschlag zu den städtischen Abgaben aufgebracht. Diesen Zuschlag hatten alle Steuerzahler aufzubringen, die mehr als 500 Mark Jahreseinkommen hatten. Nicht von ungefähr enthielten die Akten sehr viele Schreiben mit Bitten von Einwohnern um Befreiung von diesen zusätzlichen Steuerbelastungen aus den unterschiedlichsten persönlichen Gründen. Diese Bitten wurden von der zuständigen Behörde geprüft und in den meisten Fällen auch befürwortet.
Eine wichtige Institution im Kampf gegen das Bettelunwesen war die Polizei, die aufgegriffene Bettler in Verwahrung nahm. Der Schutzmann war gleichzeig der Verwalter von Armen- und Arresthaus. Meist endete der Weg mehrfach Verurteilter in Besserungsanstalten - Korrekturanstalten genannt, wo mittels Arbeitszwang eine Bestrafung erfolgte. Das Stigma eines Strafgefangenen haftete meist ein Leben lang an.
Fortzungen folgen zu den Themen:
- Armenordnungen
- Armenhäuser
- Armenpfleger
- Nichtsesshaftenhilfe
- Fürstliche Stiftungen
- Bürgerliche Stiftung
Angela Schramm
(Quelle: Angela Schramm, Diplomarbeit, Technische Universität Chemnitz, Chemnitz 1999)